Ein Blick auf die ehemalige Kanonenbahn – was noch daran erinnert.

Einst eine strategisch wichtige Eisenbahnstrecke – heute, wie unser Kalenderbild im März unschwer erkennen lässt, ein Relikt vergangener Tage, das durch Mutter Natur in kurzer Zeit zurück erobert wurde.

An einem sonnigen Spätfrühlingstag im vergangenen Jahr drückte ich an „Müllers Bahnübergang“ auf den Auslöser meiner Kamera, um in Erinnerung an die alte Bahnlinie ein Foto für unseren Heimatkalender festzuhalten. Allen, die „Müllers Bahnübergang“ nicht mehr kennen gelernt haben, sei erklärt, dass hier die Überquerung der Bahnlinie am Kreuzweg zwischen Zernitz und der Buhlendorfer Straße gemeint ist.

„Müllers Bahnübergang“ bezeichnet den Bahnblock 79 am Bahnkilometer 104, 209 der ehemaligen Verbindung zwischen Belzig und Güsten. Zu jener Zeit führte an all unseren Feldwegen ein beschrankter Fahrweg über das Gleis. Für das tägliche Öffnen und Schließen der Schrankenanlage an „Müllers Bahnübergang“ sowie weiterer Übergänge bis zum Block 80 am Kilometer 110,7 BK Buhlendorf (der bei Bedarf bis 1973 auch Haltepunkt war), sorgte der Schrankenwärter Müller. Dessen Wohnhaus und das Bahnwärterhäuschen befanden sich unmittelbar an der Gleisanlage rechts des Weges. Unser Foto könnte so ein direkter Blick aus Müllers Häuschen in Richtung Lindau gewesen sein.

Die Kanonenbahn

Nach dem deutsch-französischen Krieg (1870-1871) strebte das deutsche Kaiserreich eine bessere infrastrukturelle Anbindung des übernommenen Gebietes Elsaß-Lotringen an. Folglich beschloss man den Bau einer Militäreisenbahnstrecke von der Hauptstadt Berlin über Belzig, Güsten, Wetzlar, Koblenz, Trier nach Metz in Frankreich. Der Ausbau der Bahnstrecke begann 1875 durch den preußischen Staat. Unter Einbeziehung weiterer staatlicher Bahnen wurde die Bahnlinie 1880 durchgehend fertiggestellt. Am 15. April 1879 fuhr der erste Zug von Berlin-Charlottenburg nach Blankenheim, also auch durch unsere Region entlang „Müllers Bahnübergang“. (Der Bahnhof Lindau/Anhalt nahm seinen Betrieb ebenfalls 1879 auf.)

Wegen seiner militärischen Bedeutung nannte man diese Eisenbahnlinie „Kanonenbahn“. Die Gesamtlänge betrug 805 km, die in 24 Abschnitte eingeteilt war. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Strecke hauptsächlich durch das Militär genutzt. Für den Zivilverkehr hatte die Streckenführung nur eine geringe Bedeutung, da die Strecke abseits von Ballungsgebieten verlief und ein zweigleisiger Ausbau deshalb nicht in Betracht gezogen wurde.

Für die Reisenden unserer Region war besonders der Knotenpunkt Güterglück von Bedeutung. So waren die Städte Magdeburg und Dessau vom Lindauer Bahnhof mit einmaligem Umsteigen gut zu erreichen.

Nach der Wende beschloss man den Ausbau des Abschnitts zwischen Güterglück und Wiesenburg, als Umleitungsstrecke für die Zugverbindung Magdeburg – Berlin. Es erfolgte der zweigleisige Ausbau und die Elektrifizierung der Teilstrecke ab 1993. Nun befuhren bis Ende 1995 regelmäßig ICE-Züge die alte Kanonenbahn. Auf dieser Teilstrecke betrug die zulässige Höchstgeschwindigkeit 120 km/h. Doch als das Befahren der Umleitungsstrecke nicht mehr erforderlich war, wurde es still auf unserem Abschnitt der Kanonenbahn.

Das Interesse am Personen- und Güterverkehr zwischen Wiesenburg und dem Harzvorland ließ deutlich nach – das Aus der Kanonenbahn auf dieser Teilstrecke stand bevor.

Am 13. Dezember 2003 fuhr die letzte Regionalbahn von Belzig nach Barby und Ende 2004 verkehrte der letzte Zug planmäßig zwischen Wiesenburg und Güterglück. Nach 125 Jahren wurde die Strecke zwischen Wiesenburg und Barby stillgelegt und von der Deutschen Bahn verkauft.

Viele besondere Züge, die auf der Kanonenbahn fuhren, belegen die einstige Bedeutung der Strecke. Beispielsweise der Militärschnellzug des Royal Corps of Transport (britischer Militärreisezug) zu Beginn der 1980er Jahre, der Schnellzug D 446 Leipzig – Dessau – Magdeburg – Köln im Jahr 1979, der Anhydritzug Niedersachswerfen 1978/79 und die wohl letzte Besonderheit am 03. Oktober 2003: Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow.

Anläßlich des Tages der Deutschen Einheit reiste Udo Lindenberg gemeinsam mit 450 Gästen
in seinem bunten Sonderzug über die Kanonenbahn zur Festveranstaltung nach Magdeburg.
Im Führerstand der Lok 218212 durchbrach er symbolisch im Bahnhof Barby eine 5m hohe und 22m breite Mauer aus Holz und Styropor.
„Der Zug soll von Berlin aus in die Zukunft brettern…….“ so Lindenberg.

Wie auf unserem Kalenderbild zu erkennen ist, hat der jetzige Eigentümer begonnen, Teile der Gleisanlage zu demontieren.

Nun frag ich mich schon seit Jahren ob die Reste der Gleisanlage zur Erinnerung an die einstige Kanonenbahn liegen bleiben sollen und die Natur ihren Weg zwischen Betonschwellen, Schotter, Gummiplatten und Schraubenköpfen finden muss? Oder haben die Jäger auf den zahlreichen Hochständen entlang der Bahnschienen einen besonderen aber schwer zugänglichen Ausblick gewonnen? Vielleicht ist die Überlegung zum Bau eines Radwanderweges entlang der Strecke ja wirklich eine gute Alternative für Radwanderer, Spaziergänger und Jäger. Also auf kurzem Weg eine umweltfreundliche Verbindung der umliegenden Dorfgemeinschaften.

Bei meiner Dokumentation einer bewegten Zeit rund um die Kanonenbahn, konnte ich auf viele Erinnerungen und Berichte meines Großvaters zurückgreifen. Zudem bot mir das Internet viele Informationen mit umfassenden Daten und Fakten.

 

Christine Käsdorf
Kalenderteam

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  1. Was für ein schöner Artikel und eine interessante Geschichte!
    Vielen Dank für die vielen Recherchen und für die bildhafte Erklärung dieser alten Zeit und ihrer Zeugnisse.

    Hat vielleicht noch jemand alte Fotos von der intakten Kanonenbahn? Von vorüber fahrenden Zügen oder sogar von Udo‘s letztem Sonderzug??

    Schöne Grüße
    Ines

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